Das Lesen nämlich zwingt dem Geiste Gedanken auf

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§ 264. Die Verschiedenheit zwischen der Wirkung, welche das Selbstdenken, und der, welche das Lesen auf den Geist hat, ist unglaublich groß; daher sie die ursprüngliche Verschiedenheit der Köpfe, vermöge welcher man zum Einen, oder zum Andern getrieben wird, noch immerfort vergrößert. Das Lesen nämlich zwingt dem Geiste Gedanken auf, die der Richtung und Stimmung, welche er für den Augenblick hat, so fremd und heterogen sind, wie das Petschaft dem Lack, welchem es sein Siegel aufdrückt. Der Geist erleidet dabei totalen Zwang von außen, jetzt Dies, oder Jenes zu denken, wozu er so eben gar keinen Trieb, noch Stimmung hat. — Hingegen beim Selbstdenken folgt er seinem selbsteigenen Triebe, wie diesen für den Augenblick entweder die äußere Umgebung, oder irgend eine Erinnerung näher bestimmt hat. Die anschauliche Umgebung nämlich dringt dem Geiste nicht einen bestimmten Gedanken auf, wie das Lesen; sondern giebt ihm bloß Stoff und Anlaß zu denken was seiner Natur und gegenwärtigen Stimmung gemäß ist. — Daher nun nimmt das viele Lesen dem Geiste alle Elasticität, wie ein fortdauernd drückendes Gewicht sie einer Springfeder nimmt; und ist, um keine eigenen Gedanken zu haben, das sicherste Mittel, daß man in jeder freien Minute sogleich ein Buch zur Hand nehme. Diese Praxis ist der Grund, warum die Gelehrsamkeit die meisten Menschen noch geistloser und einfältiger macht, als sie schon von Natur sind, und auch ihrer Schriftstellerei allen Erfolgbenimmt: sie bleiben, wie schon Pope sagt:

For ever reading, never to he read.

Pope, Dunciad. III, l94.

Die Gelehrten sind Die, welche in den Büchern gelesen haben; die Denker, die Genies, die Welterleuchter und Förderer des Menschengeschlechts sind aber Die, welche unmittelbar im Buche der Welt gelesen haben.Parerga und Paralipomena. Zweiter Band.
kleine philosophische Schriften, Kapitel XXII. Selbstdenken
von Arthur Schopenhauer.
Vitam impendere vero. (Juvenalis, Sat. IV 91.)

One Reply to “Das Lesen nämlich zwingt dem Geiste Gedanken auf”

  1. Hier liegt der Widerspruch in sich. Schopenhauer schrieb es, damit es gelesen werden konnte. Welchen Gedanken zwang er seinem Leser auf? Den vom Lesen? Oder den vom Buch der Welt?

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